Nachhaltiger Klavierbau am Beispiel Steingraeber

Auf dieser Seite erwarten Sie die Hörbeispiele eines Flügels der Klavierbauers Steingraeber aus Bayreuth. Das Instrument wurde 1908 gebaut und wird immer noch im Originalzustand im Rahmen der Gottesdienste und Feierlichkeiten einer Kirche intensiv genutzt. In der verstimmten Version hört man häufiger den Ihnen mittlerweile vermutlich aufgrund des Lesens meiner Homepages wohl vertrauten singenden Ton. Diese klangliche Eigenschaft entsteht, wenn Töne aus mehreren Saiten in sich leicht verstimmt sind. Dann enthält der Ton nicht nur die ordnungsgemäßen Schwingungen, sondern zusätzlich Schwebungen. Im Gegensatz dazu nimmt man in der gestimmten Version den Ton als ruhiger wahr. Die Stimmung hat insgesamt eine stärker harmonisierende Wirkung. Die Erklärung ist einfach:

Seriennummer des Flügels von Steingraeber

Bei mehr oder weniger leicht verstimmten Tönen wird das Gehirn zu Mehr-Arbeit genötigt. Denn es muss sich die Töne zurechthören. Darüber hinaus wird dadurch gleichzeitig der eigentlichen Mehr-Wert der Musik verhindert, nämlich die Entspannung. Konzentriertes Hin-Hören spannt eher an. Sind die einzelnen Saiten der Einzeltöne aufeinander so gut wie möglich abgestimmt, so hören wir einen ruhigeren Ton. Der Kopf hat weniger Arbeit. Wir können vom energetisch aufwendigen Bewusstseins-Modus auf den sparsameren unterbewussten Modus umschalten. Dieser Prozess wird interessanterweise beim guten Klavierklang über die Modulation der Ohren und damit verbunden über den Vagusnerv unterstützt und insofern optimiert, als unser Körper sich auf Entspannung einstellt. Die Synchronisierung sowie die Harmonisierung sind - neben dem Kreativpotenzial eines entsprechend ausgerichteten Musikunterrichts - der von vielen Menschen gesuchte und erhoffte Mehr-Wert von Musik.

Beim Stimmen selbst hat man als Klavierstimmer die Gelegenheit, sich das Instrument genauer anzusehen. Was kann man am jeweiligen Instrument Bemerkenswertes feststellen? Fällt etwas besonders positiv oder negativ auf? Kann man im Laufe der Beobachtungen Gemeinsamkeiten und Unterschiede ermitteln?

Steingraeber-Flügel von 1908

Bei diesem wie oben bereits erwähnt 1908 gebauten Flügel des heute immer noch bestehenden Klavierbauers Steingraeber kann man bei der Anordnung der Rippen unten auf dem Resonanzboden das gleiche Phänomen entdecken, das der Klavierbauer aus Bayreuth noch bis über die Mitte 1900 bei seinen Kleinklavieren fortgeführt hat: Die Rippen verlaufen nicht wie bei den meisten anderen Klavierherstellern quer, sondern längs. Das erscheint ungewohnt. Jedoch sind damit verbunden keinen besonderen Nach- oder Vorteile festzustellen. Aber wenn man sich schon einmal unter dem Flügel liegend befindet, dann kann man dort einen Aufkleber entdecken. Vermutlich ist der nicht weiter wichtig, da Speditionen dort oftmals ihre Versanddaten anbringen. Doch in diesem Fall handelt es sich um einen interessanten Hinweis. Denn der Flügel ist Anfang 1900 bereits bewusst als ein nachhaltiges Produkt geplant und gebaut worden. Wir können lesen:

Die Eisenplatte kann mit Stimmstock und Saiten entnommen werden. (Stimmnägel zurückdrehen, Dämpferlade unten und Dämpferleiste oben abschrauben, Platten und Stützschrauben lösen.) Steingraeber & Söhne Bayreuth.

Nachhaltige Reparatur des Steingraeber-Flügels möglich

Dadurch kann man im Fall von Arbeiten am Resonanzboden kostengünstig die Saiten entfernen, die Arbeiten durchführen und die Originalsaiten ohne Nachteile wieder verwenden.

Als eine weitere Besonderheit dieses Flügels kann man feststellen, dass an dem Flügel keine einzige der sonst gerade im Flügelbau üblichen Agraffen vorhanden ist. Stattdessen wurde bei diesem Modell durchgängig das sonst nur im Diskant anzutreffende Konzept mit Kapodaster angewendet (siehe Bild darüber). Der Kapodaster ist wie die Agraffe die Schnittstelle zwischen Stimmstock und der klingenden Saitenlänge.

In dem Zusammenhang ist eine Besonderheit von Bösendorfer erwähnenswert. Der Klavierbauer aus Österreich verwendet nämlich einen aufgeschraubten Kapodaster. Der ermöglicht es, den so genannten Resonanzbodendruck durch ein Nacharbeiten der ansonsten fixierten Kapodaster nachzuarbeiten, wenn dieser im Lauf der Zeit verloren gegangen ist.

Damit der Resonanzbodendruck gar nicht erst verloren gehen kann, verwendet der in Deutschland kaum bekannte Klavierhersteller Mason & Hamlin das einzigartige Konzept des so genannten Tension Resonators, der nämlich ein Auseinanderdrücken des Umbaus durch die Saitenzugkräfte im Zusammenhang mit der Resonanzbodenwölbung dauerhaft verhindert. Sie sehen dieses technisch interessante Detail in dem Video der Factory Tour ab Minute 2:02. Das hier näher erläuterte Mason & Hamlin Crown Retention System ist darüber hinaus die bessere Lösung als die Klimaanlage für Ihr Piano, da es auch klimatische Schwankungen ausgleicht, ohne das Material Ihres hochwertigen Instruments zu belasten. Außerdem könnte es ein Baustein für die auffallend gute Stimmbarkeit der Pianos von Mason & Hamlin sein! Das sind alles für den Verbraucher höchst interessante Details der Nachhaltigkeit im Klavierbau.

Bei unserem Flügel fällt darüber hinaus auf, dass er gleich drei Stege hat. Die Basssaiten verteilen sich auf zwei räumlich relativ weit voneinander getrennte Stege:

3 Stege im Flügel von Steingraeber

Aber der über 100 Jahre alte Flügel von Steingraeber & Söhne ist nicht nur zu loben. Hinsichtlich der Stimmbarkeit hat er wie so viele Pianos unreine Saiten. Ferner trifft man ab der Mittellage wieder einmal auf die so genannten stumpfen Töne. Diese Töne liegen im Zentrum der Klaviatur und werden häufig gebraucht. Der stumpfe Klangcharakter bedeutet konkret, dass die Tonhaltedauer dieser Töne wesentlich kürzer ist als die der meisten anderen Töne des Instruments. Wie wirkt sich das für den Klavierspieler aus? Wenn man ein verstimmtes Klavier spielt, dann leidet darunter in der Regel die Performance. Das heißt konkret, dass man ein Stück nicht so dynamisch und ausdrucksstark wie sonst präsentieren kann, da man sich einfach mehr darauf konzentrieren muss, um aufgrund der verstimmten Töne nicht aus dem auf einer Erwartungshaltung aufgebauten Konzept zu kommen. Verstimmte Töne werden nicht erwartet. Sie sind Störungen, die mich immer wieder zu Anpassungen zwingen. Anpassung ist aber in der Regel kein Ausbildungsziel des Klavierunterrichts, der im allgemeinen auf Reproduktion und nicht auf Improvisation ausgerichtet ist. Darüber hinaus wird die Grundschnelligkeit meines Vortrags durch solch stumpfe Töne beeinflusst. Denn man kann nicht während eines musikalischen Vortrags aufstehen und dem Publikum erläutern, dass an diesem Phänomen, das die Zuhörer als Fehler wahrnehmen würden, nicht der Klavierspieler sondern der Klavierhersteller schuld ist. Also spielt man diese Töne kürzer und damit das Stück insgesamt schneller. Wenn Sie also meine gestimmte Version hören, so ist die vergleichsweise höhere Dynamik zum einen der besseren Stimmung sowie zum anderen der Vermeidungsstrategie dieser stumpfen Töne geschuldet. Eine Vermeidungsstrategie ist aber das Gegenteil dessen, worum Sie sich als Klavierspieler bemühen, nämlich um die Optimierung der Ausdrucks Ihres Klavierspiels. Wie eingangs erwähnt, ist dieses Phänomen der stumpfen Töne jedoch keine Besonderheit von Steingraeber oder von alten Instrumenten. Man findet es heute immer noch bei neuen Klavieren und Flügeln sowie bei vermutlich allen Herstellern.

Flügel von 1908 verstimmt Steingraeber Flügel gestimmt
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